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15. Dezember 2023Lesedauer 3 Minuten

Möglicher Kurswechsel beim BAG: Keine Unwirksamkeit der Kündigungen bei Fehlern im Massenentlassungsanzeigeverfahren?

Der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts (BAG) beabsichtigt, seine Rechtsprechung zur Unwirksamkeit von Kündigungen bei Fehlern im Massenentlassungsanzeigeverfahren aufzugeben. Als Folge einer EuGH-Entscheidung hat der Sechste Senat beim Zweiten Senat mit Beschluss vom 14. Dezember 2023 angefragt, ob dieser an seiner bisherigen Rechtsprechung festhalten möchte. Bis zur Beantwortung dieser Divergenzfrage durch den Zweiten Senat sind nun insgesamt drei Verfahren (6 AZR 157/22 (B) – 6 AZR 155/21 (B) – 6 AZR 121/22 (B)) ausgesetzt worden.

Sollte der Zweite Senat sich der geänderten Sichtweise des Sechsten Senats anschließen, hätte dies eine erhebliche Reduzierung der Risiken für Arbeitgeber im Massenentlassungsanzeigeverfahren zur Folge.

 

Bisherige Rechtslage: Drastische Folgen bei Fehlern im Massenentlassungsanzeigeverfahren

Möchte ein Arbeitgeber eine bestimmte Anzahl von Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmern entlassen, ist er nach § 17 Abs. 1, Abs. 3 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) verpflichtet, der zuständigen Agentur für Arbeit Anzeige davon zu erstatten. Bei Fehlern in diesem hoch formalisierten Prozess war bisher die Unwirksamkeit der Kündigungen die Folge. Das gleiche galt bei unterlassener Anzeige.

So jedenfalls die bisherige Rechtsprechung des BAG (Urteil vom 22. November 2012 – 2 AZR 371/11). Gestützt wurde die Unwirksamkeit auf § 134 BGB mit § 17 KSchG als Verbotsgesetz im Sinne der Norm. Als Konsequenz war die Durchführung des Massenentlassungsanzeigeverfahren stets mit einem erheblichen Risiko für den Arbeitgeber verbunden, da auch bei kleineren Fehlern die Unwirksamkeit aller ausgesprochenen Kündigungen drohte.

 

EuGH: Europarechtliche Vorgabe dient nicht dem individuellen Arbeitnehmerschutz

Die Kehrtwende wurde durch den Sechsten Senat in einem der hier betroffenen Verfahren eingeleitet. Er hatte den EuGH im Verfahren 6 AZR 155/21 zur Frage angerufen, welchem Zweck die Übermittlungspflicht nach Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der Massenentlassungsrichtlinie (MERL) dient, deren Umsetzung die deutsche Norm des § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG bezweckt. Konkret ging es darum, ob die Vorschrift als Norm des individuellen Arbeitnehmerschutzes anzusehen ist, denn nur in diesem Fall ist sie als Verbotsgesetz i.S.d. § 134 BGB zu qualifizieren.

Tatsächlich entschied der EuGH am 13. Juli 2023 (Az. C-134/22), dass die in der MERL aufgenommene Übermittlungspflicht nicht dem Individualschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dient, sondern nur den zuständigen Behörden ermöglichen soll, sich auf die freiwerdenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einzustellen. Seine Anfrage vom 14. Dezember 2023 begründet der Sechste Senat daher auch konsequent damit, dass § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG kein Verbotsgesetz im Sinne des § 134 BGB sei, da es an dem erforderlichen Verbotscharakter fehle. Nach dem Willen des Gesetzgebers werde die Wirksamkeit der Kündigungen von der Anzeigeverpflichtung nicht berührt. Selbst wenn § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG ein Verbotsgesetz darstellen würde, käme die Zweifelsregelung des § 134 BGB nicht zur Anwendung, da der Zweck der Norm nicht die Nichtigkeit der Kündigungen fordere.

 

Praxishinweis

Der angedeutete Kurswechsel des BAG ist zu begrüßen. Die bisherige Rechtsprechung verkannte den maßgeblichen Zweck des Massenentlassungsverfahrens, der darin besteht, die zuständigen Arbeitsagenturen zu informieren und etwaigen Problemen auf dem Arbeitsmarkt vorzubeugen.

Zu beachten ist, dass sich die Anfrage des Sechsten Senats nur auf die Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 1 und Abs. 3 KSchG bezieht. Der Sechste Senat hat in seinen Urteilsgründen betont, dass ein Fehler im Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG weiterhin zur Unwirksamkeit der Kündigungen führt. Dazu führt er aus, dass das Anzeigeverfahren eine administrativ-prozedurale Verpflichtung des Arbeitgebers außerhalb des Arbeitsverhältnisses darstelle, während durch das Konsultationsverfahren dem Betriebsrat die Möglichkeit gegeben würde, auf die Willensbildung des Arbeitgebers Einfluss zu nehmen und Kündigungen zu verhindern. Dementsprechend sei die Nichtigkeit der Kündigungen bei unterbliebenen Konsultationsverfahren nach dem Effektivitätsgrundsatz geboten und angemessen.