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7. Oktober 2024Lesedauer 4 Minuten

Keine nachträglichen Verhandlungen über die Arbeitnehmerbeteiligung bei Gründung einer arbeitnehmerlosen SE

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) stellte in seiner Entscheidung vom 16. Mai 2024 (Rechtssache C-706/22) klar, dass eine ohne Durchführung eines Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens gegründete arbeitnehmerlose Europäische Aktiengesellschaft (Societas Europaea - SE) das Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren nicht nachholen muss, nachdem die SE herrschendes Unternehmen von Tochtergesellschaften mit Arbeitnehmern geworden ist.

 

Sachverhalt

Der EuGH hatte auf Vorlage des Bundesarbeitsgerichts (BAG)1 im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens zu entscheiden, ob im Fall einer arbeitnehmerlos gegründeten SE nach Gründung ein Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren durchzuführen ist, wenn dieser SE Gesellschaften mit Arbeitnehmern in verschiedenen Mitgliedstaaten unterstellt werden. Diese Auffassung hat der klagende Konzernbetriebsrat einer der SE unterstellten Kommanditgesellschaft (KG) vertreten.

Die SE wurde im Jahr 2013 von einer englischen Ltd. und einer deutschen GmbH gegründet und in das Register für England und Wales eingetragen. Die Gründungsgesellschaften beschäftigten keine Arbeitnehmer und hatten auch keine Tochtergesellschaften mit Arbeitnehmern. Daher wurde vor Eintragung der SE kein Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren durchgeführt. Einen Tag nach der Eintragung wurde die SE Alleingesellschafterin einer deutschen Holding-GmbH mit Sitz in Hamburg, deren Aufsichtsrat zu einem Drittel mit Arbeitnehmervertretern besetzt war. Die SE fasste daraufhin den Beschluss, die Holding-GmbH in eine KG umzuwandeln; somit entfiel die Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat. Die KG beschäftigte ca. 816 Arbeitnehmer und hatte Tochtergesellschaften in mehreren Mitgliedstaaten mit insgesamt mehr als 2.000 Arbeitnehmern.

Im Jahr 2017 verlegte die SE ihren Sitz nach Hamburg. Kurz darauf unternahm der Konzernbetriebsrat der KG den Versuch, die SE nachträglich zur Bildung eines besonderen Verhandlungsgremiums zu verpflichten. Nachdem das Arbeitsgericht und das Landesarbeitsgericht Hamburg die Anträge des Konzernbetriebsrats jeweils zurückgewiesen hatten, setzte das BAG das Verfahren aus und legte die Frage dem EuGH zur Vorabentscheidung vor.

 

Entscheidung des EuGH

Der EuGH verneinte eine generelle Pflicht zur nachträglichen Durchführung des Beteiligungsverfahrens. Eine solche Verpflichtung ergibt sich weder aus der SE-Verordnung (SE-VO)2 noch aus der SE-Richtlinie (SE-RL)3. Die Regelungen beziehen sich vielmehr auf das Stadium vor der Eintragung bzw. Gründung der SE und sind deshalb nicht auf eine bereits gegründete SE übertragbar. Zudem sind die in der Richtlinie ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen zur nachträglichen Einleitung des Beteiligungsverfahrens, wie etwa die Wiederaufnahme abgebrochener Verhandlungen, nicht einschlägig. Das Fehlen einer Pflicht zur Nachholung der Arbeitnehmerbeteiligung beruht im Übrigen nicht auf einem Redaktionsversehen des Unionsgesetzgebers, sondern ist unmittelbare Folge des mit dem Vorher-Nachher-Prinzip getroffenen Kompromisses. Die der SE-RL zugrunde liegenden Gesetzgebungsmaterialien zeigen auch, dass die Frage des Zeitpunkts der Verhandlungen ausdrücklich thematisiert und deren Durchführung vor Eintragung bevorzugt wurde, um die Vorhersehbarkeit für die Beteiligten und die Stabilität der einmal gebildeten SE zu gewährleisten. Der EuGH hat jedoch deutlich gemacht, dass sich in Missbrauchsfällen eine Pflicht zur Nachholung des Beteiligungsverfahrens ergeben kann. Nach dem Missbrauchsverständnis des EuGH ist ein Missbrauch dann anzunehmen, wenn objektiv trotz formaler Einhaltung des Unionsrechts durch die konkrete Ausgestaltung die Ziele des Unionsrechts umgangen werden und die Beteiligten subjektiv die Absicht hatten durch diese Gestaltung einen durch das Unionsrecht nicht beabsichtigten Vorteil zu erlangen. Dies ist insbesondere in Konstellationen denkbar, in denen mit der SE der Zweck verfolgt wird, die Beteiligungsrechte von Arbeitnehmern zu mindern.

 

Praxishinweis

Die Entscheidung ist zu begrüßen. Denn der EuGH erweitert damit die Gestaltungsmöglichkeiten im Rahmen der Unternehmensmitbestimmung (bzw. deren Vermeidung) und stärkt die SE als Rechtsform für europäische, länderübergreifende Konzerne. Die Entscheidung verspricht jedoch vor allem mehr Klarheit in Bezug auf die umstrittene Behandlung der Vorrats-SE, die aufgrund ihrer flexiblen Einsatzmöglichkeiten bei Transaktionen und Konzernumstrukturierungen eine hohe praktische Relevanz aufweist. Eine in Deutschland bislang stark vertretene Ansicht erachtet die Gründung einer Vorrats-SE ohne Durchführung eines Beteiligungsverfahrens für zulässig, fordert die Nachholung des Beteiligungsverfahrens unter entsprechender Anwendung der Vorschriften zur SE-Gründung jedoch bei „wirtschaftlicher Aktivierung” der Gesellschaft, d. h. bei Aufnahme des Geschäftsbetriebs und Beschäftigung von Arbeitnehmern. Diese Argumentation dürfte nach der vorliegenden EuGH-Entscheidung so pauschal schwer haltbar sein. In der Gesamtschau zeichnet sich ab, dass in Zukunft die Abgrenzung zwischen zulässiger Gestaltung und unzulässigem Missbrauch an Bedeutung gewinnen wird. Nachdem der EuGH mit der vorliegenden Vorabentscheidung die abstrakten Vorgaben hierzu nochmals präzisiert hat, bleibt abzuwarten, ob das BAG in seiner – noch ausstehenden – abschließenden Entscheidung in diesem Fall die Grenze zum Missbrauch bereits als überschritten ansehen wird.


1 BAG v. 17.05.2022, 1 ABR 37/20 (A).
2 Art. 12 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2157/2001.
2 Art. 3 bis 7 der Richtlinie 2001/86.