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5. Juni 2024Lesedauer 4 Minuten

Entscheidung des EuGH zum Schutz von Menschen mit Behinderung im Arbeitsverhältnis

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in seiner bisherigen Rechtsprechung dem Schutz von Arbeitnehmenden mit Behinderung – auch vor dem Hintergrund des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen durch die Europäische Gemeinschaft (UN-Konvention) – einen hohen Stellenwert eingeräumt. Die nachfolgende Entscheidung vom 18. Januar 2024 (C-631/22) reiht sich in diese Linie ein.

 

Sachverhalt

Die Parteien stritten über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses wegen dauernder Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers. Der Arbeitnehmer war als Fahrer bei einem spanischen Abfallentsorgungsunternehmen beschäftigt. Nach einem Arbeitsunfall war er zunächst vorübergehend arbeitsunfähig. Auf seinen Antrag hin gewährte ihm seine Arbeitgeberin eine Teilzeitbeschäftigung mit reduzierten Fahrzeiten, die mit seinen körperlichen Einschränkungen vereinbar war. Wenig später stellte das zuständige Sozialgericht fest, dass der Arbeitnehmer seinen Beruf als Lkw-Fahrer nicht mehr in Vollzeit ausüben könne und daher trotz der Umsetzung dauerhaft erwerbsunfähig sei. Ihm wurde eine dauerhafte finanzielle Entschädigung zugesprochen. Die Arbeitgeberin kündigte daraufhin das Arbeitsverhältnis.

 

Beendigung des Arbeitsverhältnisses auch bei dauerhafter Arbeitsunfähigkeit nur eingeschränkt möglich

Das Vorabentscheidungsersuchen des Obergerichts der Baleareninseln betrifft die Auslegung der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie1 im Licht der Charta der Grundrechte der Europäischen Union2 (Charta) sowie der UN-Konvention3. Der EuGH entschied, dass eine nationale Regelung, die die Beendigung des Arbeitsverhältnisses bei dauernder Arbeitsunfähigkeit ermöglicht, ohne dass der Arbeitgeber verpflichtet wäre, zuvor angemessene Vorkehrungen für die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers zu treffen, oder gegebenenfalls nachzuweisen, dass solche Vorkehrungen eine unverhältnismäßige Belastung für den Arbeitgeber darstellen würden, gegen das Gemeinschaftsrecht verstößt. Der Gerichtshof verweist in seiner Entscheidung auf seine bisherige Rechtsprechung (Urteil vom 10. Februar 2022, C-485/20 Rs. HR Rail). Demnach hätte der Arbeitgeber angemessene, zumutbare Vorkehrungen treffen müssen, um dem Arbeitnehmer eine Weiterbeschäftigung zu ermöglichen.

Es sei unerheblich, dass nach der streitigen nationalen Regelung die dauernde Vollinvalidität auf Antrag des Arbeitnehmers anerkannt wird, ihm ein Anspruch auf eine Leistung der sozialen Sicherheit in Form einer monatlichen Rente zusteht und er andere Tätigkeiten ausüben darf. Eine nationale Regelung, die den Arbeitnehmer zwingt, das Risiko einzugehen, seinen Arbeitsplatz zu verlieren, um in den Genuss einer Leistung der sozialen Sicherheit zu kommen, sei rechtswidrig. Insbesondere im Lichte des Art. 27 Abs. 1 der UN-Konvention, wonach das Recht auf Arbeit auch für Personen, die während des Beschäftigungsverhältnisses eine Behinderung erwerben, beeinträchtige eine solche nationale Regelung die Wirksamkeit des Art. 5 der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie. Denn dieser verlangt vom Arbeitgeber, angemessene Vorkehrungen zu treffen, um die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf Menschen mit Behinderung zu gewährleisten. Zudem laufe sie dem in Art. 26 der Charta genannten Ziel der beruflichen Teilhabe von Menschen mit Behinderung zuwider.

 

Auswirkungen auf das deutsche Recht und Hinweise für die Praxis

Nach deutschem Recht ist eine Kündigung nur als letztes Mittel zulässig; daher muss der Arbeitgeber vor Ausspruch einer Kündigung prüfen, ob er einen Menschen mit Behinderung durch angemessene Vorkehrungen (§ 164 SGB IX), etwa behindertengerechte Arbeitsmittel und Arbeitszeiten, Anpassung des Arbeitsplatzes etc., anderweitig beschäftigen kann.

Abgesehen davon kann eine wegen der Behinderung ausgesprochene Kündigung unabhängig von der Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) unwirksam sein. Dies ist der Fall, wenn die Kündigung gegen das Benachteiligungsverbot des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (§§ 1, 7) verstößt. In diesem Fall ist die wegen einer Behinderung ausgesprochene Kündigung unwirksam aufgrund Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot (§ 134 BGB). Der Begriff der Behinderung ist hierbei allein unionsrechtlich zu bestimmen. Die Kündigung eines Menschen mit Behinderung ist daher auch im Kleinbetrieb und in den ersten sechs Monaten der Beschäftigung (Wartezeit nach § 1 KSchG) zu rechtfertigen, unabhängig davon, ob nach nationalem Recht ein gewisser Grad der Behinderung anerkannt worden ist. Die zur Abwendung der Kündigung zu treffenden Maßnahmen dürfen den Arbeitgeber jedoch nach Aussage des EuGH nicht unverhältnismäßig belasten. Die Grenzen der dem Arbeitgeber zuzumutenden Maßnahmen wird die Rechtsprechung künftig konkretisieren müssen.

Anders als in dem der Entscheidung zu Grunde liegenden Fall kann nach deutschem Recht eine Erwerbsminderungsrente auch neben einer (eingeschränkten) Berufstätigkeit bezogen werden. Je nach Ausgestaltung könnten jedoch arbeitsvertragliche Regelungen kritisch zu überprüfen sein, die vorsehen, dass eine (automatische) Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit dem Bescheid über eine Erwerbsminderungsrente erfolgt. Denn diese Konstellation ähnelt dem hier besprochenen Fall. Der Umstand, dass der Arbeitnehmer nach der spanischen Regelung nur unter dem gleichzeitigen Risiko des Jobverlusts Sozialleistungen wegen seiner Behinderung beziehen konnte, war nach Ansicht des EuGH maßgeblich für die Annahme einer unzulässigen Benachteiligung.


1Art. 2 Abs. 2, Art. 4 Abs. 1 und Art. 5 der RL 2000/78/EG des Rates vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf.
2Art. 21 und 26.
3Art. 2 und 27.